Aktueller Buch-Tipp
Friederike Wiegand, Die Kunst des Sehens.
Ein Leitfaden zur Bildbetrachtung, Münster (Daedalus) 2012
Der Bildbetrachtung in der Kunstkritik und im Kunstunterricht haftet oft etwas Willkürliches an. Geht es nicht nur um Geschmackurteile, über die sich nicht streiten lässt? Was gilt denn in der Bewertung von Kunstwerken? Nur die Autorität einiger Meinungsmacher und Kolumnisten, die über Wohl und Wehe der Künstler entscheiden? Und was gilt in der Bewertung von Schülerarbeiten, sowohl von deren eigenen Produktionen als auch von deren schriftlichen Kunstbetrachtungen, im Kunstunterricht? Beruhen die Noten für deren Bilder letztlich nicht auch auf einer rein subjektiven Einschätzung durch die Lehrkraft?
Nein! Kann man getrost sagen, wenn man Friederike Wiegands Buch als Voraussetzung einer jeden Bildbetrachtung zugrunde legt. Hier wird der Materialität des Kunstschaffens nachgegangen und Leser und Leserin ein Leitfaden an die Hand gegeben, der nachvollziehbar ist und manchen Aha-Effekt auslöst. Dabei bekommt nicht nur die Kunst des Sehens reichlich Futter, sondern auch die Sprache der Deutung einige Nahrung. Man bekommt hier kein langweiliges Buch vorgesetzt, bei dem man sich durch lange Textpassagen arbeiten muss, um ein Körnlein Wahrheit zu finden. Hier ist jede Seite optisch gut gestaltet und inhaltlich unmittelbar eingängig, da kann man das Buch aufschlagen, wo man will.
Im Hauptteil werden sechs bildnerische Mittel als grundlegende Analyse-Aspekte vorgeführt: Punkt, Linie, Form, Raum, Farbe und Komposition. Dabei wird jedoch nicht trocken Brot vorgesetzt, sondern alle Aspekte werden in Form von Gutachten, Tabellen, Zeichnungen und Checklisten zu einem Menu in mehreren geschmackvollen Gängen zusammengestellt. Herausragende Beispiele aus der Kunstgeschichte werden detailliert aufgeschlüsselt. Ein Glossar, über das sicher Kunstinteressierte und ohnehin jede Abiturientin und jeder Abiturient dankbar sein werden, rundet das Buch ab.
Dass mit einer korrekten formalen Betrachtung von Kunstwerken die Interpretation nicht abgeschlossen ist, sondern aller erst ein präziser Grund gelegt ist, weiß Friederike Wiegand natürlich. Daher finden auch ausführliche Bildbetrachtungen Raum, die zeigen, welche Synthesen aus den formalen Einzelaspekten gewonnen werden können. Schließlich werden auch Analysen von Fotographie und Werbung vorgeführt. Ich bin mir sicher, dass kein Kunstinteressierter die „Kunst des Lesens“ ohne Gewinn und Genuss zu sich nehmen wird.
Rezensent:
Dr. Dirk Kutting
Fortbildung in Mainz am 15. Mai 2013
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