Medienkompetenz und Kunsterziehung
in der Wirklichkeit des All-Jetzt
Initialvortrag von Kurt E. Becker zur Podiumsdiskussion bei der Bundeshauptversammlung des BDK - Fachverband für Kunstpädagogik, im Mainzer Gutenberg-Museum am 6. März 2004.
Nicht nur für Kunsterzieher gewinnt die Frage nach „Medienkompetenz“ zunehmend an Bedeutung. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen verdeutlichen die essenzielle Brisanz des Themas. Und Kunsterziehung steht in der Verantwortung des Vermittlers gerade gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden. Den Implikationen dieser Überlegungen wollen wir in einigen groben Zügen folgen.
Medien heute
Die aus der Bilder- und Informationsherstellung und -vermittlung sich entwickelnde virtuelle Wirklichkeit ist nicht zuletzt ein globales Geschäft, das uns seiner Multidimensionalität wegen bis in die feinsten Verästelungen unseres öffentlichen, beruflichen genauso wie persönlichen und privaten Lebens hinein verfolgt. Der Mensch der Medienwelt ist nicht mehr nur ein Produkt seiner ihm spezifisch eigenen biographischen, sozialen und psychischen Wirklichkeit des Geborenwerdens, des Freude- und Schmerzempfindens, der Neugier und der Angst und nicht zuletzt des Sterbens, sondern auch ein Produkt einer künstlichen Welt, die ihn jederzeit und überall über die Mattscheiben der Medienindustrie erreicht. Für den Menschen im Medienzeitalter gilt deswegen: er lebt nicht nur, sondern er wird auch gelebt und lässt sich leben. Die Freiheit seines Selbstseins ist bedroht von einer multimedialen Umklammerung eines alles und jeden einbeziehenden Medien-Totalitarismus. Aus dem Subjekt einer spezifisch eigenen persönlichen Wirklichkeit wird ein Objekt einer beliebigen, austauschbaren virtuellen Wirklichkeit. Entweder „wir amüsieren uns zu Tode“ wie der U.S.-amerikanische Medienkritiker und Soziologe Neil Postman formulierte, oder aber wir ertrinken in der Informations- und Bilder-Sintflut – es sei denn, wir bauen eine Arche, die uns auf den Wogen dieser Sintflut zu einem inneren Berg Ararat trägt. Die Arche heißt „Medienkompetenz“, der innere Berg Ararat „Souveränität“.
Die Genese der virtuellen Realität
Was als Evolution mit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg begann, die Macht des Wissens aus den Klöstern des Mittelalters über das massenhaft vervielfältigte Wort im Buch in die Welt hinaus tragend, fand seine Fortsetzung in der mechanischen Schreibmaschine, dem Telefon, Rundfunk, Fernsehen und PC – und endete in einer Revolution: der ersten gelungenen Nachrichtenübermittlung per Satellit. Diese Satelliten gestützte Übermittlung leitete die Globalisierung ein, die sich am effizientesten in der Medienwelt breit machen konnte. Unsere Alltagsaktivitäten, wir selbst werden zunehmend von Ereignissen beeinflusst, die sich auf der anderen Seite der Welt abspielen. Umgekehrt ist lokale Folklore global folgenreich geworden. Wir leben in einer Zeit des absoluten Wachstums – auch der Bilder. „Jedes Bild zu jeder Zeit“ ist technisch möglich und nicht nur Teil unserer Non-Stop-Gesellschaft sondern das, wodurch diese sich definiert. Mehr noch: Wirkt das „alles zu seiner Zeit“ heute seltsam antiquiert, so ist auch schon das „alles zu jeder Zeit“ schon überholt. „Alles jetzt“ heißt die Herausforderung an unsere Gegenwart, ein virtuelles „All-Jetzt“ bestimmt zunehmend unser Leben.
Wir erleben einen Epochenwandel vom Maschinentakt zum digitalen Tempo. In dieser neuen zeitlichen Möblierung verändern sich nicht nur Arbeit und Freizeit, unsere gesamte Kultur der Moderne zeigt Alterssymptome und entwickelt sich hin zur „Simultankultur“. Die Repräsentanten dieser Kultur, die Simultanten, sind fähig, ort- und zeitlos zu leben. Das virtuelle Jetzt hat eine globale Perspektive, die weltweite Vernetzung ist sein Fundament. Auf diesem Fundament der Gleichzeitigkeit ist nicht zuletzt kreative Ignoranz gefragt. Denn nur die ermöglicht es dem Simultanten, zu „überleben“. Denn auch das virtuelle All-Jetzt des Homo Sapiens im 21. Jahrhundert ist Ergebnis unseres aktiven wie reaktiven, unseres akzeptierenden wie verweigernden, unseres notwendig selektiv wahrnehmenden wie bewusst autistisch verengten Umgangs mit Bildern und Informationen, deren Gewinnung, Aufbereitung, Verarbeitung und Konsum. Auch die virtuelle Wirklichkeit müssen wir als ungesichertes Terrain betrachten lernen. Denn alle Technologie der Information und Kommunikation vermag nicht über die zweieinhalb Jahrtausende alte Einsicht des Sokrates hinwegzutäuschen, der die Begrenztheit der Spezies Mensch über die Zeiten hinweg verbindlich in dem Satz festgeschrieben hat: Ich weiß, dass ich nichts weiß.
Auch und gerade angesichts der Möglichkeiten, die die modernen Informationstechnologien hinsichtlich Geschwindigkeit und Menge der Informationen zu bieten haben, tut die Erinnerung dieses Satzes Not. Weil sie uns gemahnt und ermahnt, dass in allem sich verselbständigenden Fortschreiten ein relatives Kontinuum enthalten ist: Der Mensch als erster Beweger und damit wir selbst in unserer sensiblen Fragilität, aber genauso in unserem lüsternen Verfallensein gegenüber der Macht und den Mächtigen. Wer wüsste nicht, dass Wissen, eben weil es immer auf hinterfragenswürdigen Grundlagen basiert, basieren muss, Macht ist? Beide Irak-Kriege haben gezeigt, wie sich selbst eine auf rechtsstaatliche Grundlagen gebaute Demokratie visualierter Lügen bedient, um Kriege zu legitimieren. Die Fratze der Macht und der Menschenverachtung hat viele Gesichter und der Zynismus der plutokratischen Ordnung hat sich weltweit in allen Strukturen der beherrschenden Zivilisationskultur verewigt. Medienmogule wie Gates und Berlusconi, die uns ihre Bilder-Sintflut in die Wohnzimmer schicken, sind da in einem Atemzug zu nennen mit Bush senior und Bush junior, die die Macht der Medien zu ihren Zwecken zu missbrauchen wussten. Aber auch der Faschismus der täglichen Werbung, das feinnervige Klonen von Bewusstseinstypen innerhalb der zivilisierten Hemisphäre zeigt beachtlich Wirkung. Musils „Mann ohne Eigenschaften“, an sich ein bedeutender Repräsentant des Homo Simultans in der Literatur des 20. Jahrhunderts, ist in Anbetracht eines virtuellen All-Jetzt schon ein Relikt aus einer geradezu menschenfreundlichen Vergangenheit.
Medienkompetenz und Souveränität
Dass der Einzelne in der Wirklichkeit des virtuellen All-Jetzt mit anderen Herausforderungen konfrontiert ist als alle Menschen vor ihm in der Geschichte der Menschheit, bedarf wohl keiner Diskussion. Der einzelne, als Souverän in seinen Gemeinschaften und Gesellschaften gefordert, ist mit Herausforderungen konfrontiert, wie sie sich nur als einmalig charakterisieren lassen – im Blick auf ihre Risiken genauso wie im Blick auf ihre Chancen. Auf jeden Fall muss die Entwicklung individueller Souveränität des mündigen, aufgeklärten Bürgers in dieser All-Jetzt-Gesellschaft vor allem und in erster Linie auch auf die Souveränität der Wahrnehmung, des Bewusstseins, der Urteilskraft, des Entscheidens und last not least des Handelns in einer sphärischen Überschneidung von virtueller und tatsächlicher Wirklichkeit bauen können. Das in den Rechten und Pflichten der Souveränität gebildete Individuum nämlich hat sein Leben selbstbestimmt und selbstverantwortlich zu gestalten – und diese Souveränität lässt sich nur aus einer größtmöglichen Distanz gegenüber der virtuellen Wirklichkeit mit einem Rundumblick von einem inneren Berg Ararat leben. Das Vehikel, das den Menschen in der Epoche des All-Jetzt und in Anbetracht der damit verbunden globalen Sintflut der Bilder und Informationen zu diesem Berg Ararat trägt, heißt „Medienkompetenz“.
Die Frage nach der Medienkompetenz stellt sich dabei wesentlich unter drei Gesichtspunkten:
- dem instrumentellen Ansatz geht es um die Vermittlung der technisch-handwerklichen Fertigkeit – die Beherrschung der Medien-Vehikel steht im Vordergrund
- der immanent kritische Ansatz bezieht die Kritikfähigkeit und Kritikausübung am Informations- und Bildmaterial mit ein – eine Art Wahrnehmungs- und Bewusstseinshygiene ist wesentliches Movens dieses Ansatzes
- der diskursive Ansatz ist der radikalste und stellt das System als solches infrage – hier ist kreative Ignoranz genauso gefragt wie das Bewusstsein und die Überwindung der Zwangslage im All-Jetzt.
Im Blick auf die Kunsterziehung des All-Jetzt in der Gegenwart verdeutlicht uns der diskursive Ansatz der Medienkompetenz, dass es neben dem Lehrenden zukünftig auch Leerende, Informations-Reduzierende, geben muss – eine völlig neue Aufgabe für die Kunsterziehung der Zukunft und eine Herausforderung besonderer Art für das schulische System im Hier und Heute.
Über den Autor: Kurt E. Becker, Dr.phil, Publizist und Kommunikationsberater, Mitinhaber einer Düsseldorfer Kommunikationsagentur, Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zu Fragen der Zeit und des Menschen in dieser Welt, Moderator des Mainzer BDK-Kongresses „Schwimmen lernen in der Bilderflut“