REZENSION. „DIE STADT ZUM SPRECHEN BRINGEN“
Kirsten Winderlich: Die Stadt zum Sprechen bringen. Sprachwerke im öffentlichen Raum – Performative
Annäherungen. Artificium – Schriften zu Kunst und Kunstvermittlung, herausgegeben von Kunibert Bering,
Bd. 22. 1. Auflage 2005, 324 Seiten mit 92 schwarz-weißen Abb., Format 23,5 x 15,8 cm; ISBN 3-89896-
234-2, Broschur, 34,50 Euro; Best.-Nr. 234-2
Eine moderne Passage: Wer offenen Auges durch die Stadt spaziert oder flaniert, der wird unweigerlich auf
eine Vielzahl unterschiedlichster Texte treffen. Neben informierenden oder werbenden Texten stößt der
durch die Häuserschluchten schweifende, dabei sich hier und dort niederlassende Blick jedoch bisweilen
auch auf Zeilen, die sich ganz offensichtlich sperren. Auf Texte, die den Betrachter irritieren, indem sie sich
nicht in die gewohnten Lesemuster einordnen lassen, sondern scheinbar zweckfrei in die Architektur und
den öffentlichen Raum einfügen – in Form von Leuchtbändern etwa, oder als Projektion.
Drei Beispiele für solche künstlerische Eingriffe sind die in Berlin lokalisierten Arbeiten „The Missing
House“ von Christian Boltanski (Große Hamburger Straße), „Wunsch oder Wille“ von Thomas Locher
(Sophie-Gips-Höfe) und „Am Haus“ von Ayse Erkmen (Oranienstraße). In ihrem Buch „Die Stadt zum
Sprechen bringen. Sprachwerke im öffentlichen Raum – Performative Annäherungen“ hat sich Kirsten
Winderlich exemplarisch diesen drei „Sprachwerken“ angenähert und gleichzeitig ein angemessenes
didaktisch-methodisches Verfahren entwickelt, mit dem sich die komplexen Raumwahrnehmungsprozesse
und das Wirkungspotenzial dieser und anderer derartiger Arbeiten untersuchen lassen. Denn das
Charakteristische dieser und ähnlicher Interventionen im öffentlichen Raum ist, dass ihre Rezeption über
einen rein visuellen Zugang hinaus ganz ausdrücklich eine Bewegung und damit eine körperlich-sinnliche
Beteiligung beim Lesen einfordert, wie die Autorin konstatiert: „Die Sprachwerke oszillieren zwischen
ortsbezogenem Werk und raumkonstituierender Aufführung, in der die Präsenz der Menschen, die
Wahrnehmung und Erfahrung der Vorübergehenden auf besondere Weise Teil der Sprachwerke und damit
zu einem bewusst erlebten Geschehen des öffentlichen Raumes werden“, so Kirsten Winderlich.
Mit dem von ihr entwickelten Verfahren stellt die Autorin parallel zum eigenen Erleben ein vielschichtiges
Verfahren zur Verschriftlichung vor, das neben eigenen und fremden Texten und Fotografien (ganz bewusst
werden auch die spontanen schriftlichen und fotografischen Reflexe zufällig vorbei kommender Passanten
einbezogen) auch Zeichnungen, Montagen oder Verfremdungen nutzt, um so das ästhetische
Erfahrungspotenzial der Sprachwerke aufzuspüren und greifbar zu machen. Die durch unterschiedlichste
Methoden wie Mapping, empirische Feldforschung oder kartografische Herangehensweisen beeinflusste
Annäherung greift dabei ganz bewusst die Struktur der Sprachwerke auf und knüpft so ganz direkt an einen
aktuellen Diskurs innerhalb der Kunstpädagogik an, Forschungsmethoden zu entwickeln, die ästhetische
Erfahrungs- und Bildungsprozesse rekonstruieren und kommunizierbar machen. Eingebettet in einen dicht
geschriebenen theoretischen Rahmen, der die Sprachwerke in einen kunst- und rezeptionsgeschichtlichen
Kontext einfügt und der unter anderem Interviews mit Jochen Gerz, Rémy Zaugg und Lilly Fischer enthält,
ist der Autorin nicht nur eine intensive und höchst persönliche Auseinandersetzung mit einem bisher nur
wenig erschlossenen Kapitel aktueller Gegenwartskunst, sondern auch eine überzeugende Methode für eine
erweiterte kunstpädagogische Praxis geglückt. Und eine subtile Aufforderung, den Gang durch die Stadt
zum Ereignis werden zu lassen. - Robert Uhde