Diethard Herles
Kunstgeschichtsunterricht
als Beitrag
zur politischen Bildung ?

Vortrag gehalten auf dem 3.KPT des BDK Rheinland-
Pfalz 2009 an der Universität in Landau
am 27.06.2009

Mitte des Jahres (2009) haben französische und italienische Kunsthistoriker anlässlich einer Florentiner Tagung zur kunsthistorischen Ausbildung in der Schule einen „Florentiner Appell“ verfasst. Darin wird die Aufnahme bzw. Stärkung von Kunstgeschichte in den schulischen Lehrplänen in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union verlangt. Dies in allen Jahrgang­stufen; in Deutschland also von der Grundschule bis zum Gymnasium. Wöchentlich sollte dafür mindestens eine Unterrichtsstunde verwendet werden. Der Vorstand des Verbandes Deutscher Kunsthistoriker unterstützte diese europäische Initiative nachdrücklich und leitete den Appell an politische Entscheidungsträger weiter. (www.kunsthistoriker.org/florentiner_appell.html)
Ob Kunstgeschichte als eigenes Fach an den Schulen eingerichtet werden, oder wie hierzulande in den Kunstunterricht integriert und dort gestärkt werden soll, lässt der „Florentiner Appell“ offen. Begründet wird er mit dem Hinweis, dass gerade Kunstgeschichtsunterricht in der Lage sei, ein Bewusstsein von dem gemeinsamen Erbe aller Europäer herzustellen und damit dazu beitrage, ein gemeinsames Europa zu bauen. Kunstgeschichtsunterricht wird als die beste ­Einführung in die Geistes- und Zivilisationsgeschichte des Kontinents und des fruchtbaren Austausches mit außereuropäischen Kulturen verstanden.
Blicken wir auf die Geschichte des kunstdidaktischen Diskurses in unserem Lande, so zeigt sich, dass der Stellenwert und die Rolle der Kunstgeschichte recht unterschiedlich bewertet worden ist. Es ging dabei um die Beziehung von bildnerischer Produktion und Kunstrezeption und in diesem Zusammenhang auch um die Perspektive, unter der historische Kunstwerke ggf. zu betrachten wären. Kunst war einmal das Medium, durch das erzogen werden sollte, ein andermal selbst Ziel, auf das hin erzogen werden sollte oder auch als Unterrichtsinhalt mehr oder weniger in Frage gestellt, weil die gesellschaftliche Relevanz der Bildenden Kunst gegenüber alltagsästhetischen Phänomenen zu fehlen schien. Es ging und geht also letztlich um eine Begründung der Beschäftigung mit der Geschichte der Bildenden Kunst. Kein geringerer als Ernst Gombrich, Kunstwissenschaftler von Rang, hielt es mit Blick auf den Kunstunterricht für dringlich, Distanz zu gewinnen und zu fragen, was wir eigentlich von der Kunst wollen.
Der „Florentiner Appell“ ist ein aktueller Anlass, sich pädagogische Antworten hierzu zu vergegenwärtigen.
Wir wissen alle, dass sich unser Fach Bildende Kunst in der Vergangenheit wie in der Gegenwart besonders zu begründen hatte und hat; dass wir uns, wie dies für kaum für ein anderes Schulfach notwendig scheint, mit Rechtfertigungs- und Begründungsrhetorik beschäftigen. Ich verstehe es, wenn Kollegen und Kolleginnen dem entgegentreten und darauf verweisen, dass der unzweifelhafte Stellenwert der Kunst und des Künstlerischen als wesentliches Element menschlicher Kultur hinreicht, unser Fach zu begründen, es mithin unnötig sein müsste, den Kunstunterricht mit Bildungswirksamkeiten jenseits des Gegenstandes „Kunst“ zu rechtfertigen. Andererseits - auch andere Fächer im staatlich verantworteten Bildungssystem begründen sich nicht nur durch die Relevanz ihres Gegenstandes, sondern durch damit verbundene Schlüsselqualifikationen: Altphilologen etwa begegnen der Feststellung, die Fähigkeit, lateinische Texte zu übersetzen, habe für heutige Menschen keinen funktionalen Wert mehr, mit der Feststellung, dass sich an der Lateinischen Sprache ganz allgemein ein tieferes Verständnis für Sprache entwickle. Mathematiker begegnen dem Hinweis, dass zumindest die höhere Mathematik jenseits dessen ist, was wir in allgemeinen Lebens­zusammenhängen benötigen, damit, dass die Mathematik logisches Denken schule. Die Kollegen und Kolleginnen vom Sport verweisen bei dem Einwand, dass Fußballspielen im weiteren Lebensverlauf nur sehr weniger Schüler Bedeutung habe etwa auf die Schlüsselqualifikationen „Teamgeist“, „Leistungsgedanke“, „Fairness“.
Insbesondere für die Kunstpraxis – das Malen, Zeichnen, plastische Gestalten – können wir per se keine lebenspraktische Notwendigkeit behaupten. Da haben es andere leichter: Wer nicht lesen und schreiben kann, hat tatsächlich ein Problem und wird nicht in gesellschaftlich gehobene Funktionen kommen können. Ebenso hat in praktischen Lebenszusammenhängen ein Problem, wer die Grundrechenarten nicht beherrscht. Wer dagegen keinerlei bildnerische Fähigkeiten entwickelt hat, kann ohne weitere Schwierigkeiten soziales Prestige erlangen und selbst Direktor/in einer bedeutenden kunsthistorischen Sammlung werden.
Die Frage, zu was die Inhalte führen, die wir dem Bildungssystem anbieten, wird, ob uns dies gefällt oder nicht, gestellt. Bezogen auf den Bereich Kunstgeschichte im Rahmen des Kunstunterrichts können die Formulierungen des „Florentiner Appells“ bedeutsam sein. Denn Ziele und mit konkreten Inhalten verbundene Gesichtspunkte bedingen sich gegenseitig. Wenn es darum gehen soll, durch die Geschichte der Bildenden Kunst den Geist zu verstehen, der Europa seit mehr als drei Jahrtausenden vereint, so greifen formal-ästhetische Betrachtungen zu kurz. Kunstgeschichte wäre vordringlich als Geistes- und Sozialgeschichte zu behandeln. Der Appell schließt mit dem Argument, ein überall in Europa vermittelter kunstgeschichtlicher Unterricht sei eine Geste, welche die Gemeinschaft der Zukunft Europas und den kommenden Generationen schuldet. Damit ist ein hoher Anspruch verbunden. Die Didaktik, die Betrachtungsweisen müssen zu den Absichten passen.
Vor Jahren gab es für bayerische staatliche Museen zwei gemeinsame und sehr unterschiedliche Werbeplakate. „Kunst öffnet die Augen“ stand auf dem einen zu lesen, während das andere die Museen als „Schatzkammern“ bezeichnete. In dem einen Fall wurde also behauptet, Kunstbegegnung führe zu besonderen Erfahrungen und Einsichten und im anderen wurde auf die Werthaltigkeit der Exponate hingewiesen, die Bewunderung nahelegt als angemessene Betrachterhaltung. Die Frage, wofür Kunst die Augen öffnet, bleibt denn im Kunsthistorischen Museum merkwürdig unbeantwortet. Anders in naturwissenschaftlichen Sammlungen.
Im Senckenbergmuseum in Frankfurt gab es einmal eine Texttafel, mit der den Besuchern der intendierte Bildungswert der Ausstellung schon am Eingang mitgeteilt wurde. Da war zu lesen:
„Verehrter Besucher! Wenn Sie diese Räume verlassen, so sollten Sie verstanden haben, worin das Wesen des Lebendigen besteht. ... Solches Wissen ist nicht reines Fachwissen ... es ist Bildungsgut, das jedermann im Bewusstsein tragen sollte, damit er sich selber als Teil dieser organischen Welt besser kennen lerne.“
Ich habe den Text damals dem ehemaligen ­Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, Erich Steingräber, vorgelegt mit der Bitte, für ein Kunsthistorisches Museum (die Alte Pinakothek in München) einen entsprechenden Text vorzuschlagen – falls möglich. Steingräber formulierte u.a., dass an der Kunstgeschichte erlebbar wird, „dass auch die größten Einzelleistungen der europäischen Kunst in einem geschichtlichen Kontinuum stehen“. Daraus ergibt sich für die Besucher ein allgemeiner Bildungswert: „Der Besucher verlässt die berühmten Häuser der Bayerischen Staatsgemälde­sammlungen nicht nur bereichert an Kunsterlebnissen, sondern er hat anschaulich erfahren, woher er als Europäer kommt.“ (Siehe: Diethard HERLES: Das Museum und die Dinge. Wissenschaft, Präsentation, Pädagogik. Frankfurt / New York 1996)
Das hier wie im „Florentiner Appell“ gemeinte Bildungsziel ist am besten mit „Geschichtsbewusstsein“ beschrieben. Geschichtsbewusstsein meint die ständige Gegenwart des Wissens, „dass der Mensch und alle von ihm geschaffenen Einrichtungen und Formen seines Zusammenlebens in der Zeit existieren, also eine Herkunft und eine Zukunft haben, dass sie nichts darstellen, was stabil, unveränderlich und ohne Voraussetzungen ist“. (Th. SCHIEDER: Geschichtsinteresse und Geschichtsbewusstsein heute. In: C.J. BURCKHARDT u.a.: Geschichte zwischen Gestern und Morgen. München 1974, S.78f)
„Bildung“ meint nicht lediglich die Summe von Wissensbeständen. Bildung besitzt, wer mit seinem Wissen in einer jeweiligen Gegenwart und mit Blick in eine Zukunft verantwortungsbewusst handelt. So gesehen ist zu fragen, ob die Auseinandersetzung mit Geschichte / Kunstgeschichte eine ausschließlich rückwärtsgewandte Beschäftigung ist, oder ob diese Bedeutung für eine Zukunft erlangen kann.
Die Frage „Gibt es Zukunft in der Vergangenheit?“ hat der Philosoph Ernst Bloch mit der Erklärung beantwortet, dass Vergangenheit und Zukunft untrennbar miteinander verbunden sind. Die Vergangenheit kann — Bloch formuliert dies sehr einprägsam bildhaft — als ein Strom begriffen werden, „der auf uns zufließt, durch unsere Gegenwart in die Zukunft fließt, dort diesen anderen Namen bekommt und doch der gleiche Strom geblieben ist“ (Ernst BLOCH: Gibt es Zukunft in der Vergangenheit? Ein Rundfunkvortrag 1966. In: ders.: Tendenz – Latenz – Utopie. Ergänzungsband zur Gesamtausgabe. Aufsätze und Vorträge. 1978, S. 297).
Geschichte darf, wenn aus Vergangenem das Gegenwärtige begriffen werden soll, nicht mit bloß Gewesenem verwechselt werden. Kunstwerke können also besondere Anlässe sein zur Auseinandersetzung mit Vergangenheit im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft. Damit ist eine pädagogische Funktion beschrieben – nicht lediglich eine fachliche.

Zu einer solch pädagogischen Funktion der Kunstgeschichte versuche ich folgende Thesen:
- Kunstwerke sind ein Übungsfeld für die Annäherung an Fremdes — Fremdes verstanden als geistig, räumlich und/oder zeitlich Entferntes.
- Indem uns Kunstwerke Geschichte und Geschichtlichkeit nachvollziehbar vor Augen führen, fördern sie das Bewusstsein, dass die Gegenwart in der Vergangenheit begann, dass die Vergangenheit in der Zukunft endet und die Zukunft von der Gegenwart abhängig ist. Gefördert wird damit eine wichtige Voraussetzung für Verantwortungsbewusstsein, d.h. das Bewusstsein um die Verantwortung der eigenen Gegenwart für zukünftige Generationen.

Damit ist etwas gesagt, das schon Friedrich Schiller bei seiner Antrittsvorlesung als Professor für Geschichte 1789 in Jena als einen Effekt der Beschäftigung mit Geschichte feststellte:
„ ... indem sie (die Geschichte) vor Augen das große Gemälde der Zeiten und Völker auseinander breitet, wird sie die vorschnellen Entscheidungen des Augenblicks und die beschränkten Urteile der Selbstsucht verbessern“. (Friedrich SCHILLER: Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Band 4. München/Wien 1976, S.765f)
Aktuellere Zitate weisen in die gleiche Richtung:
„Große Kunstwerke sind mehr als nur ästhetisch ansprechende Gegenstände, mehr als nur Meisterstücke menschlicher Geschicklichkeit und Erfindungsgabe ... Die Geschichte der Kunst ist ein wesentlicher Teil der Geschichte menschlichen Bewusstseins überhaupt.“ (Hugh HONOUR / John FLEMMING: Weltgeschichte der Kunst, München 1992, S.15)
Auf einem Internationalen Kongress für Kunstgeschichte in Berlin hat der damalige Bundespräsident ­Richard von Weizsäcker die persönlichkeitsbildende und politisch relevante Bedeutung der Beschäftigung mit Bildender Kunst in ihrer Geschichte auf die Formel gebracht: „Gute Kunstgeschichte ist eine Hilfe gegen die schreckliche menschliche Untugend des Vorurteils schlechthin.“ (Zitiert nach: Im Bilde. Informationen aus dem Berufsverband Bildender Künstler Landesverband Bayern. Heft 1/1993, S.4)
Solche Qualität kann die Geschichte der Bildenden Kunst in der Zusammenschau gewinnen - aber auch das ausgewählte einzelne Kunstwerk. So sieht Gunter Otto in der Kunst geradezu eine Einladung „konventionelle Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster aufzugeben". (Gunter OTTO: Das Verhältnis zwischen Funktion und Bedeutung bei Werken der Bildenden Kunst. In: Hans BRÖG: Kunstpädagogik heute. Bd.1. Düsseldorf 1980, S.118)
Gerade die Kunst des 20. Jahrhundert lässt die Kunst zu einem Erfahrungsfeld werden, das die Relativität der Konzepte anschaulich vor Augen führt. Auf den Pluralismus der Ismen folgte der bekennende Pluralismus der Postmoderne. Weil Kunsterfahrung besonders mit Pluralität verbunden ist, bezeichnet sie Wolfgang Welsch als eine geradezu idealtypische Schule der Pluralität, des Nebeneinander von Unterschiedlichem, als ein Trainingsfeld für Toleranz. (Wolfgang WELSCH: Zur Aktualität ästhetischen Denkens. In: Kunstform International, Bd. 100, 1989, S.145)
Europäische Kunstgeschichte stellt sich dar als Ergebnis von Freiheit, Individualität aber auch von Bindungen. Selbst die außergewöhnliche Künstlerpersönlichkeit bleibt ein Kind ihrer Zeit und an deren Bedingungen gebunden. So sind augenfällige und bezeichnende Merkmale europäischer Kunstgeschichte ihre besondere Dynamik, ständiger Wandel bei gleichzeitiger Kontinuität. Jede Veränderung der Bildwelt hat ihre Voraussetzungen. Aus den Bildern der Vergangenheit spricht das Interesse des Menschen an den Grundfragen der Existenz, an der Natur, an seiner Stellung in der ­Gesellschaft. Die Bildwerke enthalten Vorstellungen, Wertmaßstäbe, die Interessen, den „Geist“ ihrer ­jewei­ligen Zeit. Damit sind die ­Bildwerke der Vergangenheit nicht lediglich eine Möglichkeit, über ­vergangene Verhältnisse und deren Bedingungen zu reflektieren; sie sind insbesondere Denkanstoß und ­Reflektionsanlass zu zeitlos mensch­lichen Problemkreisen. ­Daraus ­gewinnen sie ihre Bildungsbedeutsamkeit.

 

 

 

 

 

 

 

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